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Die Sicherheit von aus Zellkulturen gewonnenen Lebensmitteln – bereit für die wissenschaftliche Bewertung

Innovative neue Technologien in den Bereichen Zellkultur, Gewebetechnik und Präzisionsfermentation ebnen den Weg für potenzielle neue Lebensmittel wie aus kultivierten Zellen gewonnenes Fleisch oder aus Mikroorganismen gewonnene Milchproteine.

Fresh raw meat with herbs on green background

Morgen eröffnet die EFSA ein zweitägiges wissenschaftliches Kolloquium, um Meinungen und Erkenntnisse von führenden Wissenschaftlern, Vertretern europäischer, internationaler und nationaler Agenturen, Technologieunternehmen und Akteuren der Lebensmittelindustrie, Verbrauchergruppen sowie einer Reihe von Einzelpersonen und anderen Organisationen einzuholen, die an diesem hochaktuellen Thema interessiert sind.

Ziel der EFSA ist es, sicherzustellen, dass wir bei der Festlegung von Standards für die Bewertung der Sicherheit dieser neuen Lebensmitteltechnologien alle neuesten wissenschaftlichen Entwicklungen und Risikobewertungen berücksichtigen. Dabei wollen wir auch mit den Herstellern und der Gesellschaft im Allgemeinen zusammenarbeiten.

Als Vorgeschmack auf die Veranstaltung, die live im Internet übertragen wird, haben wir mit Experten auf diesem Gebiet gesprochen, um einige der damit verbundenen wissenschaftlichen Fragen sowie den sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund zu erläutern.

Worum handelt es sich bei Gewebetechnik und Präzisionsfermentation?

Ramiro Alberio, einer der Teilnehmer der Diskussionsrunde des EFSA-Kolloquiums, ist Professor für Entwicklungsbiologie an der Universität von Nottingham im Vereinigten Königreich.

Prof. Alberio: „Die Zell- und Gewebetechnik ermöglicht die Züchtung von Zellen und Geweben, unabhängig von einem Gesamtorganismus. Auf der Basis von einigen wenigen Zellen können diese Zellen zum Beispiel aus einem Muskel oder einem anderen Organ unter kontrollierten Bedingungen gezüchtet werden, ohne dass die anderen Teile des Organismus Lebewesen wie Menschen, Tiere, Pflanzen und Mikroben (z.B. Bakterien und Viren). vorhanden sein müssen.“

„Zelltechnik wird bereits in der Medizin eingesetzt, um Gewebe zu regenerieren oder beschädigte oder erkrankte Zellen zu ersetzen. Die Technologien sind bereits weit fortgeschritten und könnten in anderen Bereichen wie der Agrar- und Ernährungsindustrie angewandt werden.“

Bei der sogenannten Präzisionsfermentation handelt es sich um eine Technologie, bei der Mikroorganismen zur Herstellung bestimmter Produkte wie Proteine, humanidentische Milch-Oligosaccharide, Vitamine oder Ballaststoffe eingesetzt werden.

Prof. Alberio: „Die Präzisionsfermentation wird bereits seit Jahren zur Herstellung von Arzneimitteln wie Insulin und von Lebensmittelenzymen, z. B. bei der Käseherstellung, eingesetzt. Die Wissenschaft hinter dieser Technologie entwickelt sich ständig weiter, sodass die Palette der möglichen Lebensmittelanwendungen immer größer wird.“

Sind mit diesen Technologien hergestellte Lebensmittel und Lebensmittelzutaten sicher?

Es ist Aufgabe der EFSA, die Sicherheit neuartiger Lebensmittel in der EU zu bewerten, einschließlich solcher, die mittels neuer Technologien wie Zellkultur und Gewebetechnik gewonnen werden.

Wolfgang Gelbmann ist leitender wissenschaftlicher Referent bei der EFSA im Bereich neuartige Lebensmittel und Gesamtberichterstatter für das Kolloquium.

Er erklärte: „Bisher wurde die EFSA nicht ersucht, Lebensmittel zu bewerten, die aus kultivierten tierischen Zellen gewonnen werden; mitunter werden solche Lebensmittel auch als „Laborfleisch“ bezeichnet. Wir haben jedoch mehrere neuartige Lebensmittelzutaten untersucht, die durch Präzisionsfermentation hergestellt wurden.“

„Wir erwarten, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren Anträge für neuartige, aus Zellkulturen gewonnene Lebensmittel erhalten werden. Wir bleiben also wissenschaftlich auf dem Laufenden, um vorbereitet zu sein, wenn diese Anträge eingehen.“

Diese Bewertungen werden von Experten des EFSA-Gremiums für Ernährung, neuartige Lebensmittel und Lebensmittelallergene (NDA-Gremium), insbesondere der Arbeitsgruppe „Neuartige Lebensmittel“, durchgeführt.

„Wir sind zuversichtlich“, so Dr. Gelbmann, „dass die von unseren Experten erstellten Leitlinien für neuartige Lebensmittel zusammen mit den anderen einschlägigen sektorübergreifenden Leitlinien der EFSA für diesen Zweck geeignet sind. Tatsächlich haben wir in den letzten Jahren über hundert Anträge für eine Vielzahl neuartiger Lebensmittel anhand dieser Leitlinien bewertet. Dennoch überprüfen wir sie regelmäßig, um sicherzustellen, dass sie in Bezug auf die Fortschritte in Wissenschaft und Technologie stets auf dem neuesten Stand sind.“

„Wir halten regelmäßig Sitzungen mit Interessenträgern über neuartige Lebensmittel auf wissenschaftlichen Veranstaltungen und im Rahmen von Workshops ab, um technologische Herausforderungen und Sicherheitsaspekte zu erörtern. Das Kolloquium ist ein wichtiger Bestandteil dieses ständigen Dialogs.“

Wer entscheidet, ob aus Zellkultur gewonnene Lebensmittel für den Markt bereit sind?

Die tatsächliche Produktion von aus Zellkulturen gewonnenen Lebensmitteln in der EU steckt noch in den Kinderschuhen, zeigt aber – wie überall sonst auf der Welt – ein schnelles Wachstum. Bisher ist allerdings noch kein Antrag eingegangen.

Als unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium hat die EFSA kein Mitspracherecht bei der Entscheidungsfindung in der EU und spricht sich weder für noch gegen den Einsatz einer neuen Lebensmitteltechnologie wie aus Zellkulturen gewonnene Lebensmittel aus. Unsere Bewertungen liefern wissenschaftliche Erkenntnisse über die Sicherheit solcher Produkte für die europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher.

Die Entscheidungen über die Marktzulassung neuartiger Lebensmittel und die Kennzeichnungsvorschriften werden von den EU-Regulierungsbehörden getroffen, d. h. von der Europäischen Kommission in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten. Auch für die Regulierungsbehörden hat die Sicherheit der Verbraucher Priorität, doch können sie bei ihren Entscheidungen auch wirtschaftliche, tierschutzrechtliche, soziale und/oder andere Aspekte berücksichtigen.

Die Kommission hat bereits erklärt, dass die Zellkulturtechnologie einen potenziellen Beitrag zur Erreichung der Ziele der EU-Strategie „vom Hof auf den Tisch“ für faire, sichere, gesunde und ökologisch nachhaltige Lebensmittelsysteme leisten kann.

Die Technologien sind fortschrittlich, doch die Kapazitäten zur Herstellung und Vermarktung dieser Lebensmittel werden nur dann zunehmen, wenn die Hersteller überzeugt sind, dass die Produkte eine Zukunft haben. Letztendlich werden die Verbraucherinnen und Verbraucher darüber entscheiden.

Was denken die Verbraucher?

Prof. Michael Siegrist leitet die Forschungsgruppe der ETH Zürich im Bereich Lebensmittel und Verbraucherverhalten und untersucht die Wahrnehmungen der Verbraucher in Bezug auf neue Technologien, einschließlich aus Zellkulturen gewonnener Lebensmittel.

Er erklärte: „Der Eindruck der Natürlichkeit von Lebensmitteln oder Lebensmitteltechnologien ist ein entscheidender Faktor für die Verbraucher. Wird einer dieser Aspekte als unnatürlich wahrgenommen, ist die Akzeptanz durch den Verbraucher in der Regel schwierig zu erreichen.“

„Aus Zellkulturen gewonnenes Fleisch ist ein gutes Beispiel. In vielen Studien waren die meisten Teilnehmer kaum bereit, derartige Produkte überhaupt zu probieren.“

„Dieses Vertrauen in die „Natürlichkeit“ ist eine mentale Abkürzung, eine sogenannte „Heuristik“, die alle Menschen folgendermaßen anwenden: „Wenn es natürlich ist, kann es mir nicht schaden, es muss sogar gut für mich sein“. Das Gegenteil gilt für das, was nicht natürlich ist.“

Die Kommunikation in Bezug auf die potenziellen sozialen und wirtschaftlichen Vorteile spielt auch eine Rolle dabei, wie gut neue Lebensmittel von den Verbrauchern angenommen werden. So sind sich beispielsweise viele Verbraucher der ökologischen Auswirkungen der Fleischproduktion nicht bewusst, was ihre mangelnde Bereitschaft erklären könnte, ihren Fleischkonsum zu reduzieren oder alternative Produkte zu konsumieren.

„Schlussendlich“, so Prof. Siegrist, „sind Preis und Geschmack für die meisten Verbraucher die wichtigsten Faktoren. In grauer Vorzeit wurden in Europa neuartige Lebensmittel wie Tomaten und Kartoffeln zu wichtigen Grundnahrungsmitteln, in jüngerer Zeit Chiasamen und Quinoa. Es bleibt abzuwarten, ob die Menschen die psychologischen und informativen Barrieren gegenüber aus Zellkulturen gewonnenen Lebensmitteln überwinden werden. Eine entsprechende Überwindung wird aber sicherlich nur dann stattfinden, wenn Produkte wie Fleisch aus Zellkulturen gut schmecken und günstiger als die herkömmlichen Alternativen sind.“

Das wissenschaftliche Kolloquium der EFSA beginnt am 11. Mai um 9.00 Uhr und endet am 12. Mai um 12.30 Uhr. Erfahren Sie mehr über das Programm und verfolgen Sie die Diskussionen hier online.

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Tel. +39 0521 036 149

E-mail: press [at] efsa.europa.eu (Press[at]efsa[dot]europa[dot]eu)

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